Andrina Jörg

Texte zu Kunst im Aargauer Kulturmagazin JULI

Zur Arbeit von Rolf Winnewisser, Juli 2015

Castle-Room

Guckkasten, Wunderkammer; halb Bild, halb Bühne: Rolf Winnewissers «Castle-Room» verbindet und visualisiert zugleich seine vielschichtigen Interessen und künstlerischen Vorgehensweisen: Im Modell, das er immer wieder verändert, schafft Winnewisser situative Bilder mit mehrfach aufgeladenen Querverweisen. Der Sucher und Sammler erforscht darin Assoziationsräume, bringt Gefundenes oder selbst Kreiertes in Dialog, oder eher: Multilog.
Das Vorbild für seinen Castle-Room hat Winnewisser in einem Werk des amerikanischen out-law“-Künstlers James Castle (1899 – 1977) gefunden. Er hat die Zeichnung, die den Innenraum eines Schuppens in perspektivischer Sicht darstellt, bildhaft nachgebaut; der «Castle-Room», so genannt in Reminiszenz an den verstorbenen Aussenseiter, dient ihm nun seit mehreren Jahren als Probebühne, und in Ausstellungen als Schaubühne oder Bilderrahmen auf Zeit. Sammelstücke, Kleinstskulpturen, Objets Trouvés des Weitgereisten finden Platz in der Rahmung, können Sinnbild sein, bleiben aber rätselhaft und nie eindeutig in ihrer Lesbarkeit. Das Offenhalten ist in Winnewissers weitverzweigtem Werk stets ein Merkmal. Ob in Aquarellen, Zeichnungen, Texten, Drucken, Filmen, Installationen, er sucht das Fliessende in Zeit und Raum, die beweglichen Konstellationen und Assemblagen. Dies zeigt sich in der Materialwahl (ungebrannter Ton, Papier maché, Holz, Papier, Spiegel), und zeigt sich auch in den künstlerischen Formaten und Techniken, die der Künstler (er-)findet. Winnewisser arbeitet als Bricoleur, schafft Versuchsanordnungen, die er, oftmals inspiriert durch theoretische, philosophische, künstlerische, aber auch alltägliche Lektüre in neue Auseinandersetzung bringt. Ebenso interessiert ist er an den „Bild- und Vermessungsmaschinen“, welche die verschiedenen Kulturen während ihrer Geschichte hervorgebracht haben. Mikroskope, Lineale, Projektoren, Bildrollen, Landkarten, Werkzeuge, um die Welt und ihre verborgenen Geheimnisse zu erkunden, inspirieren zu neuen künstlerischen Setzungen.

Bild zum Text von Rolf Winnewisser

Bild: © Rolf Winnewisser

Zur Arbeit von Nesa Gschwend, Juni 2015

Stoffe als Speicher

Der rote Faden: Er zieht sich als sinnliche und sinnbildliche Spur durch das künstlerische Schaffen von Nesa Gschwend. Schlängelt sich unter ihrer Regie als Linie durch ihre Werke, wird zur Hülle, zum Körper, wird Objekt, knäuelt und schlingt. Mit Fäden wirkt, ver-wirklicht und vernetzt die Künstlerin Orte, Dinge oder Gedanken. Seit Jahren verstätigt sie gleichsam mit der uralten Grundfaser unserer Kultur archaisch anmutende Gefüge und Behausungen für Ideen, inspiriert von Ritualen aus dem Land des Ganges und dem Rheintal, in dem seit alters schon – wie fast überall auf der Welt – gestickt, genäht und im weiteren Sinn genährt wurde. (Lebens-)Fäden speichern Geschichten: Die Künstlerin versucht, die Erinnerungen – sozusagen die Stoffe in den Stoffen – freizusetzten, die Texte in den Textilien zu finden, mit ihnen neue Texturen und Kontexte zu schaffen. Sie verstrickt nach Möglichkeit sich und andere dabei. Für die gelernte Textilgestalterin, die auch Ausbildungen und Erfahrungen im Bereich des Theaters hat, ist der Körper, seine Ausformung, seine Wahrnehmung der wichtigste Bezugsort. So sind Installationen, Performances und Objekte stets sinnlich – und vor allem auch haptisch ausgelegt. Wachs als fliessendes, aufnehmendes, oft hautähnliches Material fasziniert die Künstlerin genauso wie Haare, die sie seit Jahren sammelt und als Gestaltungselement einsetzt. Die Dominanz von Rot – in den meisten Kulturen als Symbol für Blut und Erotik eng an das Körperliche gebunden – zeugt ebenfalls von der vertieften Auseinandersetzung mit dem Leib. Da liegt auch der umhüllende Stoff nah, der uns quasi von Geburt bis zum Tod begleitet, der Unterschlupf bietet, ein starkes, aber auch durchlässiges Gerüst sein kann; im übertragenen Sinn eine Wirbelsäule, ein Knochen, wie die Arbeit «Unterschlupf» aus der Serie «Stoffe als Speicher» nahelegt. Wie auch die Arbeit «Körper» ist das Werk aus gebrauchten Stoffen und herausgelösten Fäden aus der eigenen Familiengeschichte der Künstlerin gefertigt. Nebst den haptischen Medien arbeitet Nesa Gschwend aber auch immer wieder mit Video. Dieses verbindet Gegenden und Geschichten in räumlichen Installationen, aber auch im www. Alles und immer wieder neu vernetzt: ein Knäuel, weltweit.

Bild zum Text von Nesa Gschwend

Bild: © Nesa Gschwend

Zur Arbeit von Pat Noser, Mai 2015

Ludmila Nikolajewna

Ein idyllisches Portrait: Käse und Kuchen auf blumenverziertem Tischtuch, silberglänzender Kerzenständer, Porzellan. Die ältere Frau, die vor abgedunkeltem Hintergrund ins Licht gerückt wird, scheint in einer heilen, heimeligen Welt zu leben – könnte man meinen. Doch das Portrait stammt aus der sogenannt verbotenen Zone rund um Tschernobyl; jenem 30 Kilometer breiten Gürtel, der in den nächsten Tausenden von Jahren ohne gesundheitliches Risiko nicht mehr bewohnbar sein wird. Die Gefahr ist unsichtbar, nur die Geigenzähler schlagen Alarm. Die Natur, Pflanzen, Pilze, Wölfe und Bären haben sich in den letzten zehn Jahren das Land und die leer stehenden Gebäude zurück erobert und mittlerweile werden geführte Touristentouren zum Katastrophenort angeboten. Einzelne der ursprünglich 43 000 Bewohner/innen leben wieder in der Zone; illegal. Pat Noser, die Künstlerin des Portraits, ist insgesamt vier Mal an den Ort gereist, an dem am 26. April 1986 der Reaktorunfall passierte. Sie hat mehr als tausend Ansichten fotografiert, Tagebuch geführt, mit Menschen gesprochen, mit ihnen gegessen. Anschliessend ist sie zurückgekehrt und hat malend eine Auswahl der mitgebrachten Eindrücke verarbeitet. Das Medium der Malerei schafft ästhetisch Distanz, bringt die Thematik auf eine universellere Ebene. Nicht weniger tragisch bleibt dabei das Wissen um die Katastrophe und das Schicksal der Einzelnen. Die Malerei reiht die Motive ein in die Ahnengalerie der Beobachtung und Darstellung. Auch Pat Noser schaut genau hin. Sie legt den Finger, respektive den Pinsel da drauf, wo die Schönheit weh tut, wo Alltägliches, zuweilen auch Ekliges, zu etwas Grossem wird. Stau, Fleisch, Farbtuben, Medienbilder, Gesichter entfalten unter ihrem Blick und in der Umformung der Malerei ihre ästhetische Grausamkeit, konstruieren und entlarven gleichermassen die Überhöhung der Gefühle, die sich einstellen, wenn wir wunderbar pittoreske Rauchsäulen, Feuerbrände, rosafarbige Pellwürste, Sonnenuntergänge anschauen. Abgestumpft durch die allgegenwärtige Präsenz der Medienbilder werden wir in der Betrachtung der Malerei von Pat Noser wieder aufmerksam auf die Grundbedingungen – Kleinigkeiten wie Monstrositäten – die wir uns als (un-)menschliche Gesellschaft selber geschaffen haben.

Bild zum Text von Pat Noser

Bild: © Pat Noser

Zur Arbeit von Ueli Sager, April 2015

Kunstvolle Wiederverwertung

Löchrig gerissene Bildgegenden, angegriffene Worte, gestapelter (Un)-Sinn, aber auch wohlgeordnete Buchstabenzeilen und -spalten sind das Material, aus welchem Ueli Sager quasi als Wort - Bild- (S)Türmer wankende Vorstellungsgebäude errichtet und vernichtet. Es schichten sich die Farben und Formen zwischen wechselnden Gravitationskräften, es überlagern sich die Sinne. Die Betrachtenden werden gefordert, die in labile Balance gebrachten Wort- und Bildschöpfungen, Wort/Bildbaustellen und (De)-Konstrukte für sich immer wieder von Neuem in ein bedeutsames Gleichgewicht zu bringen. Abbruchworte brechen nicht an Sollbruchstellen, sondern knapp daneben, verschoben. Verschroben und manchmal verdoppelt der Sinn. Zweckentfremdete Ziffern und Zeichen, die gerade durch die Lücken und Leerstellen, durch die Wort- und Bildtürmereien Tagträume triggern.
Und Ueli der Sager und Schreiber und Décollageur verwertet, verwendet und wendet (Wort)-Container wieder und wieder wieder; fügt zusammen, was nicht zusammen gehört, transportiert Inhalte von Ort zu Wort. Die jahrelange sprach-spielerische Arbeit des Künstlers hat zuweilen etwas Dadaistisches, knüpft aber auch an die Tradition der Affichisten an, die in einem gesellschaftskritischen wie auch poetischen und disziplinübergreifenden performativen Akt Plakatierwände bearbeiteten. Auch hier: Affichismus, kunstvoll wiederverwertet. Der Künstler kombiniert Botschaften, die ihn über die Printmedien erreichen. Er stellt somit mit künstlerischen Mitteln die Lesegewohnheiten der Zeit(ungs)genossen auf den Kopf, sondiert, legt frei, spiegelt und kombiniert, um neuartige Sinnbehausungen und Denktürme aller Art zu kreieren. Oftmals sind die künstlerischen Elemente von Sagers Arbeit aber auch einfach nur simple Lettern. Der Künstler lotet aber doppelbödig deren Mehrfachsinn aus. Die Lust am Kombinationsspiel ist gross und so wird «Lust» unversehens zu «Luft» und «Lift» zu «List».
Sager lüftet und liftet die Sprache solange, bis auch dem Verschobenen, Verschrobenen Tür und Tor geöffnet werden. Willkommen im Sagerschen Sprachtum.

Bild zum Text von Ueli Sager

Bild: © Ueli Sager

Zur Arbeit von Christine Hunold, März 2015

Horizonte

Mehr als 1000 Horizonte hat die Bildende Künstlerin Christine Hunold von 2004 bis 2012 während ihrer Reisen und Auslandaufenthalte fotografiert. Diesige Aufsichten aufs Meer, stürzende Wolken in menschenleere Strassenzeilen, surreal sich in der Ferne verlierende Architekturen und flirrende Blicke in die Wüste scheinen die Bilder zu dokumentieren. Eine innere Qualität des Raums, etwas traumhaft Irreales, Modellartiges und Künstliches durchdringen die Aufnahmen. Proportionen sind verschoben und Volumen, Formen und Materialien nicht zu identifizieren. Doch unsere Erwartungen trüben die Sicht: Abgelichtet ist nicht Wasser und was wir sonst an Grossem zu sehen glauben. Abgelichtet sind profane Gebäudefassaden. Christine Hunold hat in Megacities, Gentrifizierungszentren, urbanen Randzonen oder Schrinking Cities ihre Kamera an Häuserwände gehalten und gegen den Himmel fotografiert. Mit einer kleinen Drehung der Perspektive hebt sie die Wahrnehmung aus den Angeln. Dabei freigesetzt wird Raum für eigene, auch utopische Vorstellungen. Schemen von Erinnertem und Bekanntgeglaubtem formieren sich zu Luftschlössern mit spektakulärer Umgebung. Die Optik der Kamera rahmt das, was sich sonst an den Rändern unserer Aufmerksamkeit befindet, und überträgt das Periphere des Blicks in unsere horizontal geprägte Erfahrung. Neue Peripherie entsteht: Menschenleer und unbevölkert sind die Landschaften.
Die Arbeit der Künstlerin könnte als Metapher verstanden werden: Der Raum, in dem wir leben, wird immer unbewohnbarer und artifizieller. Er nimmt mehr und mehr eine Ästhetik an, wie es die Bilder suggerieren.
Vielleicht macht es bald keinen Unterschied mehr, ob wir im Disneyland, in der inszenierten Stadt oder in der global durchgängig gestalteten Natur unterwegs sind. Und es ist anzunehmen, dass weitere technologische Möglichkeiten in der Zukunft unvorhersehbare Perspektiven und neue Kippmomente provozieren werden.

Bild zum Text von Christine Hunold

Bild: © Christine Hunold

Zur Arbeit von Daniel Furter, März 2015

Das Leichte und das Schwere

Federleichtes verbindet sich in Daniel Furters Bildern mit Beklemmnis und seifig-ironischem Gummienten-Dasein. Bäder mit emotionalen Wechselströmen – nie wird Wellness pur geboten. Im Gegenteil, die Betrachtenden müssen gleichsam in Dampf, Rauch und Nebel die Zeichen für sich zu deuten wissen und den Ausweg aus dem nicht ganz paradiesischen Paradox selber suchen. Sechsbeinige Hunde oder «einer wie wir» mit Backsteinen vor dem Kopf bevölkern die Bildwelten und stellen die Orientierung auf die Probe. Oftmals hintersinnige Bildtitel, zuweilen assoziativ, manchmal lakonisch simpel, schenken den Bildkreationen zusätzlich Raum und Rätsel. Die Gegensätze verdichten sich in Bild und Sprache, die Verdachtsmomente hingegen scheinen niemals ganz erhärtet.
Daniel Furters Atelier befindet sich im Turm des KiFF. Im Winter ungeheizt, erstarren die Inspirationen hier zeitweise zu Eisblöcken, der Raum wird zur Gefriertruhe, das Holz und die Kälte knarren gleichermassen unter den Schritten des rauchblauen Cowboys, der seinen Blick gesenkt hält. Das unsichtbare Lächeln gefriert wohl zuweilen selbstironisch auf den Lippen.
Lasierend, linear, angedeutet figürlich und quasi abstrakt changieren die bildnerischen Spuren, die der versierte Maler und Zeichner, der seine Ausbildung unter anderem an der Kunstakademie Düsseldorf absolvierte, mit Gouache, Acryl oder Kugelschreiber auf die Leinwand setzt. Farbe rinnt, Kreise und Kringel schlängeln sich als ornamentale Mäander über die Fläche in die Tiefe und Tiere und nackte Menschen bilden oftmals die Staffage einer Welt, die nicht zwischen innen und aussen unterscheidet. Mit grosser Leichtigkeit scheint Daniel Furter seinen surrealen Bildkosmos in der Primamalerei zu entwerfen. Zuweilen naiv anmutend, düster und komisch, berückend und bedrückend poetisch zugleich.

Bild zum Text von Daniel Furter

Bild: © Daniel Furter

Zur Arbeit von Christian Greutmann, Januar 2015

Myxomycet

Rosafarbener Schlund und schwefelgelbe Tentakel: Der Myxomycet, halb Tier, halb Pilz, bewegt sich kaum sichtbar auf Totholz und Moos und frisst auf dem Weg verrottende Artgenossen. Das Urzeitlebewesen gedeiht in den hiesigen Breitengraden in zahlloser Form: Hexenbutter, Drachendreck, Wolfsblut, oder wie es sonst noch heisst, lässt rote, tropfenförmige Gebilde wachsen, webt Gespinste, baut Netze oder Kegel in glühenden Farben.
Der Künstler Christian Greutmann hat sich über längere Zeit mit den Myxomyzeten beschäftigt, diesen seltsamen Kreaturen, die früher als Pflanzen galten und heute zu den Tieren zählen. Der Künstler lässt sich von ihrer Formen- und Farbenvielfalt inspirieren, formt die ursprünglich fein zyseliert wirkenden Gebilde der Amöbenarten aus Modelliermasse nach, bildet aus Styropor, Silikon oder Bauschaum die Stäbchen, Kugeln, Röhren, die sich zu einem amorphen Gebilde türmen oder zu einem sinnlich-farbenfrohen Körper vereinen. In überdimensionierter Grösse interpretiert Christian Greutmann, der sich in seiner Kunst seit längerer Zeit mit Phänomenen der Natur beschäftigt, die Eigenart dieser Lebewesen, die wuchernd Gestalt annehmen und macht so das Fremde und artifiziell Wirkende um so deutlicher und eindrücklicher sichtbar. Er schleift, ätzt und spachtelt, malt und spritzt, feilt oder ritzt an den bauchigen Objekten. Den Bildhauer und Maler interessiert die individuelle Form; er schafft das unwiederholbare, Einzelne auch bei den neu erschaffenen Myxozyten heraus: die Volumen, die Oberflächen, die vielfältigen und erstaunlichen Farbgebungen, die von metallisch schillernd bis fluoreszierend alle Farbschattierungen des Spektrums in sich aufnehmen. Die Farben begreift und behandelt Christian Greutmann ebenfalls als plastisches Element. In der künstlerischen Überformung intensiviert, pulsieren die Farbabstrahlungen von den Wänden und dehnen sich gleichsam wie Sporen des Myxomycets im Raum aus. Sie werden zu Überbringern einer fremden Welt.

Bild zum Text von Christian Greutmann

Bild: © Christian Greutmann

Zur Arbeit von Sonja Kretz, August 2014

Enthüllung

Rauer Stoff verhüllt das Tier. Oder besser – das Spielzeug. Und vielleicht eher: das Modell. Das Testobjekt wird verborgen von einem rudimentären Überwurf, der gelöchert und malträtiert wurde von groben Nadelstichen. Unter dem zusammengepfuschten Deckmantel verrät das Modelltier seine konfektionelle Herstellung, die in seiner Perfektion in hartem Kontrast zum Umhang steht. Der Blick der Betrachtenden erhascht Plastik in Hautfarbe und glattrosa Nüstern, kaum sichtbar unter dem grauen Umhang. Gänzlich versteckt ist die Kunststoff-Seidenhaarmähne, die sicherlich hingebungsvoll gekämmt werden darf. Der serielle Mädchentraum, drapiert von einem extravaganten Gewand. Mit stoischer Gelassenheit trägt das Modelltier das Cape, das es in experimenteller Fashion-Manier gleichermassen schützt wie auch bändigt. Das Setting ist nüchtern, einer wissenschaftlichen Experimentieranlage gleich. Der rechte Rand des Bildes deutet jedoch wie die Schnurpfspuren auf dem Pony-Poncho etwas Provisorisches, Skizzenhaftes an.
Sonja Kretz untersucht in ihren Arbeiten oftmals das komplizierte Verhältnis von Natur und Kultur und die zeitgenössisch-analytische Sicht darauf. Mit wissenschaftlich genauem Blick seziert sie meist alltägliche Ma-terialien in ihren Formen und Farben, klopft sie nach ihrem Assoziationspotenzial ab und setzt sie eigenwillig zu neuen Konstruktionen zusammen. Textiles, Papier oder Holz wird unter ihrer Hand durch Schnitt und Faltung, durch Hängung und Setzung, durch Anordnung und Präsentationsformen, durch Anspielungen auf Prä-sentationsmöglichkeiten in kulturinstitutionellen und wissenschaftlichen Kontexten zu mehrdeutigen (Schein-)Anordnungen, die durch die künstlerische und künstliche Manipulation das Geheimnisvolle der neuen Kreationen und Kreaturen bewahrt. Oftmals steht in den Werken von Sonja Kretz jedoch die Beziehung von Mensch und Tier, von Hülle und Körper, Konstruktion, Landschaft und Natur ernsthaft und auch schalkhaft auf dem Spiel.

Bild zum Text von Sonja Kretz

Bild: © Sonja Kretz

Zur Arbeit von Eric Hattan, August 2014

Ensemble de 32 Chaises

Zweiunddreissig Stühle, ein jeder bestückt mit einem betonierten Sockel am Bein. Passanten gleich scheinen sich die Möbel über den Platz zu schleppen. Die lädierten Sitzgelegenheiten wirken so, als würden sie mit ihrem Klumpfuss je unterschiedliche Ziele anpeilen. Das Mobiliar, eher zufällig am Ort, stand wohl schon zu besseren Zeiten in anderen Räumen und ausgesessen wurde sicher schon manches. Die Stühle, gleichsam Individuen und Stellvertreter für den Menschen, evozieren als versammelte Menge Geschichten, die ihre je eigene Erzählumgebung mitbringen und sich zu einem narrativen Potpourri für den Erzählsessel vermengen: Küchengerüche breiten sich aus, Büromief im stickigen Zimmer vielleicht, summende Gartengeräusche, eine Kreide die auf der Wandtafel quietscht...
Tatsächlich hat der in Wettingen geborene und heute in Basel und Paris lebende Künstler Eric Hattan die Stühle jedoch auf den Strassen Beiruts gefunden und eingesammelt. Vor dieser geografischen - und vor allem gesellschaftlich-kulturellen Information bekommen die versehrten Sitzgelegenheiten eine neue Dimension. Der Krieg, der in der Hauptstadt Libanons lange omnipräsent war und den wir in unseren Breitengraden - bequem auf unsern Fauteuils sitzend - zum Glück nur aus den Nachrichten kennen, bringt als geistige Hintergrundkulisse traurige Bilder in die gute Ausstellungsstube und lässt Fragen aufkommen. Eric Hattan, ein Künstler, der es in seinen raumbezogenen und situationsspezifischen Arbeiten immer wieder schafft, alltägliche Begebenheiten so zu inszenieren, dass nichts mehr selbstverständlich erscheint, zwingt uns zu einer Neusichtung der Lage und entlarvt durch seine Werke unsere (Vor)- Urteile denen wir „aufsitzen“ – oftmals lassen wir uns von diesen auch leiten, wenn es darum gehen sollte, Konsens zu finden. Die Installation von Eric Hattan ist momentan im Kunstraum Baden in der Gruppenausstellung «warzone» zu sehen. Das 300-Jahre-Jubiläum «Friede von Baden» bietet diversen kulturellen Institutionen Anlass, aus unterschiedlichsten Perspektiven über Krieg und Frieden nachzudenken.

Bild zum Text von Eric Hattan

Bild: © Eric Hattan

Zur Arbeit von Zobrist/Waeckerlin, Juni 2014

Interkulturelle Botschaften

Die Skulptur mit den beiden vermummten, lässig hingeflätzten «Kühler»-Figuren irritiert. Die transformierte Schutzhülle, welche über Personen und Sitzgelegenheit (oder Mitfahrgelegenheit?) gestülpt wurde, ruft heimelige Erinnerungen an Grossmutters Decke, an Kirschen, Speck und Aufschnitt wach, die beiden so zugenähten, rot-weiss-karierten Wartenden machen hingegen eher einen ausserirdisch fremden, schon fast raumfahrenden Eindruck auf ihrem Gefährt. Die gleichsam auf einem Sockel stillgestellter Mobilität ruhenden «Figurinen» haben einerseits repräsentativen Charakter, erinnern an die Sphären von Autosalons, wirken durch ihren Pyjamaüberwurf andererseits häuslich intim. Erinnerungs-, Deutungs- und Ordnungsgefüge kommen durch das dargebotene Bild rasant in Fahrt. Ja, können – zumal im Geist – auch aus der Kurve schleudern, sodass am Ende aus zerknitterter Wäsche geschaut wird. Zum Beispiel wenn das Statussymbol Auto als Garant für Sexyness, (nebst Schnelligkeit, Freiheit und Erfolg) durch ästhetisch-sinnliche Schichtungen kleinkarierter (Denk-)stoffe bald so zerknüllt in sich zusammenfällt wie die Ganzkörperanzüge am Ende der Performance des Künstlerinnenduos Zobrist/Waeckerlin. Die Hüllen, ihrer Funktion entledigt, waren als Relikt für die Dauer der Ausstellung als schützender Einteiler, der keinen Unterschied zwischen Mensch und Objekt machte, im Haus für Kunst Uri sichtbar auf dem verdeckten Auto geblieben und zeichneten das Dagewesene nunmehr leer und formverzerrt nach. Die Arbeit, die als Folgeprojekt einer vorangegangenen Kunst- und Bauarbeit für die Schweizer Botschaft in Kairo entwickelt wurde, bekam im «Schatten der Pyramiden» eine weitere Dimension: Mit der Verhüllung wurde die Stellung der Frau in einer globalisierten Welt mit wandelnden Wertevorstellungen und aufeinanderprallenden Religionen und Kulturen thematisiert.
Mit ihren konzeptuellen und ortsbezogenen, meist vergänglichen, scheinbar leichtfüssigen Arbeiten werfen Zobrist/Waeckerlin durch einfache, aber wirkmächtige Verschiebungen des Alltäglichen Fragen auf, die auf humorvolle Weise zur Reflexion und Neusichtung des längst bekannt Geglaubten verführen.

Bild zum Text von Zobrist/Waeckerlin

Bild: © Zobrist/Waeckerlin

Zur Arbeit von Guido Nussbaum, Mai 2014

Weltbild

Helle Flecken versprengt auf blauem Grund: Die in sich geschlossenen, fasrig wirkenden Formen kommen bekannt vor. Den Stiefel, das Schweinchen, wissen schon Schulkinder, die früh darauf konditioniert werden, zu deuten. Die Nationalstaaten sind hier aber ordentlich aus den Fugen geraten. Weggedriftet die Länder, isoliert, verstreut zu einzelnen, flächigen Puzzleteilen die Reiche. Sogar die Auffaltungen der Alpen platt und alles wüstengelb. Oder eher buttergelb. Teig in Guetsliformen. Ausgestochen scharf sind die Ränder, welche die Grenzen zum Niemandsland abstecken. Oder zum Niemandmeer? Auf der Erde – das ist sie doch, oder? – kein Hinkommen von einer zur andern Nation. Nicht mit menschlicher Kraft. Aus der Sattelitenperspektive mutet die Entfernung nach Hüpfdistanz an. Das All in seiner schrecklichen Leere droht nur ein bisschen von den Ecken her. Der blaue Planet tatsächlich wie eine Murmel so schön und fragil, die gewölbte Oberfläche von Licht geflutet. Verschoben ist jedoch jede Orientierung auf der Erde, alle Achsen sind gebrochen. Die irdischen Himmelsrichtungen scheinen sich in einer neuen, rollenden Planung aufgelöst zu haben.
Guido Nussbaum, Maler, Bildhauer, Fotograf und kritischer Geist, nimmt sich dem Globus in seiner künstlerischen Arbeit schon seit Jahrzehnten an. In immer neuen Varianten und neuen Medien strapaziert er unser Weltbild, sprengt Vorstellungen von Ordnungen, Richtungen, Grenzziehungen. Er legt konstruierte Vormachstellungen frei, entlarvt eurozentristische Sichtweisen, schafft eigene Gesetze und bringt dabei das sensible Gleichgewicht territorialer Ideen ins Wanken.
In der aktuellen Ausstellung im Kunstraum Baden beschäftigt sich Guido Nussbaum ein weiteres Mal mit dem Globus. Nebst älteren Arbeiten präsentiert der Künstler ein Bild der Welt, welches auch – und immer mehr – von den Medien mitkonstruiert wird. Mit collagierten Papieren von Kunstzeitungen und –zeitschriften schafft er einen immensen Tondo, aus dem neu angeordnete Kontinente aus dem Grund des kulturellen Nährbodens heraustreten und einen neuen, verzerrten, an die Decke gehängten Kosmos offenbaren. Der Blick nach oben macht schwindlig, Orientierungen verlieren sich in ungeordneten Fluchtpunkten und Mehrperspektivigkeiten. Die Richtungen verkehren sich, nichts ist so, wie zu sein scheint.

Bild zum Text von Guido Nussbaum

Bild: © Guido Nussbaum

Zur Arbeit von Timo Ullmann, April 2014

desire.diorama

Den Blick zieht es in die Ferne: Glühende Sonnenuntergänge vor Silhouetten sich wiegender Palmen, Wasserfälle, die weich in Becken schäumen, hohe lichtumflorte Wälder, geheimnisvolles Dickicht. Verführerisch ist die Traumlandschaft hinter Kissenbergen und Liegelandschaften, rasch entlarvt auch die illusionäre Wirklichkeit und Wildnis auf den romantisch-exotischen Tapeten. Der Künstler Timo Ullmann hat die sehnsuchtsbeladenen Naturbilder aufgespürt, welche im Internet als Kulisse erotischer Livestream-Shows fungieren. Als wandfüllende Videoprojektion werden nun die über Webcams zugänglichen Interieurs in einer künstlerischen Installation gezeigt. Bezahlt, um aus dem Bild zu treten, animieren die unsichtbaren Darsteller die Fantasien der Betrachtenden vor dem Wissenshintergrund des Geschäftes mit den Körpern auch ohne ihre Anwesenheit, verwandeln den arglosen Blick in einen potenziell voyeuristischen. Die inszenierte, scheinbar heimelige Privatsphäre wird so zum vibrierenden, imaginären Schauplatz verschiedener Nöte, Begehren und Machtkonstellationen, in welche die Betrachtenden genau so verwickelt werden wie die Produzentinnen und Produzenten der erotischen Blickräume. Mithilfe ausgeklügelter technischer Verfahren schafft der junge Künstler Timo Ullmann irritierende, virtuellreelle Raumkonstrukte, sozusagen translokale, hybride Zonen. Die vielschichtigen Arbeiten sind oftmals so angelegt, dass sich die Besucher/innen inmitten sich selbst zersetzender, akustischer und visueller Loops zwischen interferierenden Prozessen wiederfinden. Im Zuge der ortschreitenden Auflösung formieren sich die Klänge und Bilder in technobasierten Sphären alsbald zu etwas Neuartigem. Der Künstler vermag es, mit seinen Werken auf diese Weise ungewohnte und auch kritisch-reflexive Blickweisen freizusetzen.

Bild zum Text von Timo Ullmann

Bild: © Timo Ullmann

Zur Arbeit von Karin Kurzmeyer, März 2014

Skizzen für eine Stadt

Mobile Vergnügungsanlagen im zivilen Luftraum, Wohnsilos in der Höhe baumelnd, schlingende Pflanzen, hängende Gärten weit über den Köpfen: Dies sind im doppelten Sinn hochgefahrene Visionen für eine Stadt. Parkplätze in zugigen Sphären und Fussgängerzonen machen sich zeitgemäss wendig die windigen Nischen mit schwindelerregender Aussicht zu Nutze, bieten vorübergehend Prospektionen in der Vogelperspektive, ferngerückte Blicke auf das ferne Lärmen der Stadt. Was, wenn sich die Hebel und Arme der mobilen Träger in Bewegung setzen? Der Tanz der Krane, der vom Bauboom diktiert wird, hört doch nie auf, scheint sich wie ein Zeichensystem durch Jahrzehnte in einer immerzu provisorischen Welt zu ziehen. Krane wie Kraniche, die Zugvögel des Glücks, des Fortschritts.
Die raumplanerischen Absichten werden innerhalb der städtebaulichen Koordinaten zumindest in der Vorstellung durch die Zeichnungen der Künstlerin Karin Kurzmeyer in Schwingung und ins Wanken gebracht. Obwohl die abgebildeten Bauten, die Brückenpfeiler, Ampeln oder Strassenkandelaber auf eine spezifische Epoche hinweisen, wirken die Stadtfotos in der schwarz-weiss-Abstraktion der Zeit enthoben. Der weite Himmel über den Fussgängerzonen liegt bleiern auf der Stadt, die Jahreszeit verrät weder Winter noch Sommer, die steile Wasserrutsche, welche von einem Kranarm in die Sihl führt oder die auf einem Kran montierte Sprinkleranlage aus der selben Bildserie halten ein zweifelhaftes, nasskaltes Vergnügen bereit.
Karin Kurzmeyers Arbeiten sind Gedankenpotenzials. Oft skizzenhafte Eingriffe in den Alltag, in die aktuelle Umgebung. Hier bilden unspektakuläre Fotos, die Dokumentarisches assoziieren die Hintergrundfolie für die Szenarien, die sich von einem vermeintlich Realen abheben und dieses konterkarieren. Die über die städtische Szenerie gelagerten Zeichnungen sind eher Einfälle denn behauptete künstlerische Setzungen. Sie deuten verspielte Alternativen inmitten einer funktionalen, wohl strukturierten Ordnung der Dinge an, laden ein, mögliche Welten, Räume, Systeme zu unterwandern, oder hier wohl eher: zu überfliegen.

Bild zum Text von Karin Kurzmeyer

Bild: © Karin Kurzmeyer

Zur Arbeit von Christina Schmid, Februar 2014

Inglourious Basterds

Löchrige Wesen aus denen Flauschiges quillt, verstricken uns mit ihren leeren Blicken. Was uns anschaut, umgarnt uns, häkelt uns ein und entführt uns in ferne Zeiten und fremde Welten. Die Netzhaut, die hier nicht Auge ist, wird schemenartig zum Antlitz aufgespannt. Das Gegenüber an der Wand weckt Erinnerungen und Ahnungen an Riten, Rituale, Ritterreiche. Oder grüsst pelzig der Spiderman? Gelangen Bastarde posthum zu Ruhm und Ehre? Die von Gegensätzen geprägten Masken entlarven und hintergehen unsere Erwartungen stumm und geschwätzig zugleich. Ihre Beschaffenheit erzählt in Altrosa und Pink von Fleiss und Punk, von Gloria und Gollum, auch von Orient und Okzident.
Die Arbeiten der Künstlerin Christina Schmid bewegen sich oftmals im Spannungsfeld traditioneller Kulturtechniken und industriell Gefertigtem. Altes Handwerk verwebt sich mit Neuem, generiert Zukünftiges, manchmal Menschenähnliches, häufig auch Unmenschliches. Dabei treffen individuelle Körper- und Lebensspuren auf anonyme Konsumprodukte. Christina Schmid nutzt vielfältige künstlerische Verfahren, um aus den Abfällen serieller Massenproduktionen persönlich bearbeitete, kunstvolle Werke zu schaffen. Sie überführt die Dinge und Materialien in neue Sinnzusammenhänge, bearbeitet Gefundenes, setzt modular zusammen, ordnet neu. Dabei arbeitet die Künstlerin eine Ornamentik heraus, welche in Grundrissen von künstlichen Städten und Stadtlandschaften, in Gesichtern, in Handlungen sichtbar wird. Gebrauchsanleitungen alltäglicher Utensilien näht Christina Schmid beispielsweise fast schon ornamental abstrahiert auf Seide, einfache Handbewegungen zeichnet die Künstlerin dabei als organisch anmutende Formen mit Faden, aufgetürmte Pralinenschachteln baut sie zu Raketen mit musterartiger Oberflächenstruktur auf und Verpackungsmaterialien werden unter ihrer Hand zu Vorlagen und Gussformen für idealsymmetrische Musterstädte.

Bild zum Text von Christina Schmid

Bild: © Christina Schmid

Zur Arbeit von Veronika Spierenburg, Januar 2014

Geometrie in Schwingung

Mit minimalen Gesten erkundet die Tänzerin auf dem 9-minütigen Videofilm «Crossing of a Horizontal Body with a Vertical One» die gleichermassen funktionale wie ästhetische Architektur des Palacio Gustava Capanema, dem Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de Janeiro. Die Tänzerin in Veronika Spierenburgs Videoarbeit schreitet den modernistischen Bau ab, lotet dasin den 30er-Jahren unter der Leitung von Le Corbusier konzipierte Gebäude mit ihrem Körper aus, erfasst dabei dessen Topologie und setzt ihm menschliches Mass entgegen. In den Video-Stills scheinen viele Themen auf, die von Spierenburg wiederkehrend in unterschiedlichen Werken in den Fokus gerückt werden. Institutionelle Architekturen wie beispielsweise Bibliotheken, die Archive der Kultur beherbergen, dienen der Künstlerin genau so als Forschungsfeld und Ausgangsmaterial für ihre Werke wie Wühlkisten auf Flohmärkten, die einen Wust an kulturellen Versatzstücken horten. Mit vorerst schlicht anmutenden Setzungen und Eingriffen bringt Veronika Spierenburg in Fotografien Performances, Videos und Installationen eine aufgeladene Geometrie in Schwingung, die immer auch im Verhältnis zum Menschen steht. Sie schafft durch Neuanordnungen visueller und akustischer Rhythmen dichte Überlagerungen in Raum und Zeit und legt dabei alte, konstruierte Ordnungen frei. Im Kunsthaus Aarau präsentiert die diesjährige Trägerin des Manor Kunstpreises Aarau in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung eine multimediale Installation, welche von ihrer Auseinandersetzung mit den spezifischen architektonischen Strukturen der drei Museen Kunsthaus Glarus, Östergötland Museum in Schweden und Boijmans Museum in Rotterdam zeugt.

Bild zum Text von Veronika Spierenburg

Bild: © Veronika Spierenburg

Zur Arbeit von Marc Hartmann, Dezember 2013

Ein Tisch für Zwei

Die Szenerie hat etwas Anrührendes: Im gleissenden Mittagslicht werden sich zwei Zeit nehmen, gediegen und stilvoll zu tafeln und sich den kulinarisch-sinnlichen Freuden hinzugeben. Das Versprechen nach Zweisamkeit, nach Gaumenkitzel und Verzehr bekommt jedoch vor der harten Kulisse des Mülls, inmitten von Elektroschrottbergen, eine etwas eiserne Geschmacksnote. Frachtcontainer erinnern an globalisierte Realität, an Warenströme, Wertschöpfung und Wirtschaftswunder, aber auch an ihre Kehr- und Schattenseite. Hinter dem weissen Gedeck auf dem Schrotthügel erscheint ein Telegrafenmast wie ein Kreuz – ein Mahnmal. Was geschieht in Zukunft wohl mit den Rohstoffen, mit denen der ganze Wohlstandsmüll produziert wird, und was mit den menschlichen Ressourcen? Gerne setzt man sich an einen hübsch gedeckten Tisch und lässt es sich, weder nach rechts noch nach links schauend, gut gehen. Oder – aus der Zuschauerperspektive – man glaubt daran, dass alles nur ein Schauspiel ist, ein Schwank, bei dem das freigestellte Mobiliar, die roten Liebesblumen, das hübsch drapierte Leintuch die Ingredienzen eines Rituals sind, das Glück und Genuss verheisst. Glück, Genuss, Überfluss und Überdruss liegen in der westlichen Welt jedoch oft allzu nah beieinander.
Marc Hartmann, Künstler und Koch, befasst sich in verschiedenen Arbeiten mit den Ritualen des Essens und mit seinen ökologischen und sozialen Aspekten.
2011 war an der Auswahl 2011 eine Arbeit des Künstlerduos Hänger-Hartmann zu sehen: Mit "Nature’s finest", einem überdimensionierten Burger und Frites aus Epoxid, Styropor und lackiertem Holz, befragt das Künstlerduo eine gefeierte Ikone der Wegwerf- und Wegfressgesellschaft.

Bild zum Text von Marc Hartmann

Bild: © Marc Hartmann

Zur Arbeit von KOORDER, Oktober 2013

Was für eine Assemblage! Wohin das Auge schaut: Klebband, alte Textilien, Verschalungstafeln, Folien, Styropor, Schaumstoffe, Handwerkermaterialien in voll entfalteter Opulenz. In koorders Installationen sammelt sich der Gips auf Podesten, verwickeln sich alte Textilien um Körper, halten sich Dachlatten in der Schwebe, machen sich Farbkleckse breit. Das krude Universum erinnert an ein do-it-yourself- Laboratorium, in dem affenartige Kreaturen die Ereignisse zu steuern scheinen, verstümmelte Kissenwesen auf Sockeln mit leerem Blick die Szenerie überwachen oder Torsen in verfleckten Unterhemden ihre Präsenz markieren. Schnell verliert sich die gewohnte Orientierung in der fremden Welt. Die Betrachtenden lassen sich koordern, wähnen sich auf den gelben und blauen Leitlinien eines Systems, auf welchen geklebte Kybernetik an Boden und Wänden die Vektoren vorgeben. Doch überall Platzhalter, Leerstellen, Schablonen. Einer Matrix gleich schreiben sich die Klebbandraster in die Köpfe der Betrachtenden, die vielleicht einer geheimen Ordnung folgen sollten. Die Besucher/ innen navigieren mit multiplizierten Joysticks mehrfach und mehrdeutig durch das Spiel, welches sich immer wieder neu erfindet und an dessen Rändern sich die vielfältigen Spielformen in den runzligen Oberflächen in den Folien spiegeln und brechen. Es blitzen Relikte einer Konsumgesellschaft auf, jedes Zeichen ein Begehren in Stoff formuliert, eine Richtung auf dem Holzweg, eine Ansage auf Alu. Die Cyberworld hat sich unter koorders Einfluss zu Materie verbastelt. Mitte Oktober verlegen koorder (Matthias Berger, Till Hänel) nun ihr Atelier für sieben Wochen an die Oberstufe Suhr. Gemeinsam mit acht Klassen und Lehrpersonen werden sie während ihres Aufenthalts an der Schule ein neues Werk erarbeiten. In ihrem eigenen Atelier haben koorder im Vorfeld schon einige Klassen getroffen und Elemente, die bei dieser Begegnung entstanden sind, gleich in ihr Werk eingearbeitet. Was für eine Assemblage!

Bild zum Text von KOORDER

Bild: © KOORDER

Zur Arbeit von Hugo Suter, September 2013

Hugo Suter

Perlglanzpigmente changieren auf der Oberfläche des fünf Meter langen Objektes aus Holz und Stoff. Sie glitzern wie eingefangene Lichtstrahlen auf einem ruhigen See. Den Blick der Betrachtenden zieht es zunehmend in die Tiefe, man scheint den Seegrund zwischen den spiegelnden Ellipsen zu erahnen, während man gleichzeitig immer wieder an der Oberfläche hängen bleibt, um alsbald wieder vom Sog der Tiefe eingenommen zu werden. Eine seltsame Gleichzeitigkeit, aber auch Gegenläufigkeit in der Wahrnehmung von Fläche und Tiefe stellt sich ein. Vielleicht ein programmatisches Werk für den Künstler Hugo Suter, der die unterschiedlichsten Erscheinungsformen des Wassers, die flüchtigen Augenblicke des Lebens, die ihn stets von Neuem faszinierten, immer wieder untersucht, fotografisch und malerisch erkundet und künstlerisch in Installationen und Objekten umgesetzt hat. Mehrere Jahrzehnte seines Lebens hat der Künstler, der auch Philosoph und künstlerischer Forscher war, am Hallwilersee gelebt. Bevor er ans kontemplative Seeufer umsiedelte, war er von 1968 bis 1972 Mitglied der Ateliergemeinschaft Ziegelrain in Aarau, welche in künstlerischen Kreisen damals für Furore sorgten.
Eines seiner bevorzugten Materialien war das Glas. In seinem Hauptwerk «Paravent», an dem er über 17 Jahre arbeitete, hat der ehemalige Tiefdruckretoucheur, der mit vielfältigsten Techniken vertraut war, auf 65 Gläsern die Formen der wechselnden Wasserspiele des Sees in die Gläser geschliffen, gekratzt oder geätzt. Matt, spiegelnd oder durchscheinend überlagern sich die Linien, Flächen, Umrisse beim Umwandern (oder geistigen Umschwimmen) zu immer neuen Formationen.
Im Kunstraum Medici in Solothurn ist gegenwärtig eine Präsentation der wichtigsten Werke des Künstlers zu sehen. Hugo Suter hat die Ausstellung zwar mitgeplant, erleben konnte er die Vernissage jedoch nicht mehr. Er ist am 16. Oktober mit 70 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Auch wenn Hugo Suter nie international bekannt wurde, so zählt er doch zu den wichtigsten Aargauer Künstlern der Gegenwart.

Bild zum Text von Hugo Suter

Bild: © Hugo Suter

Zur Arbeit von Stefan Wegmüller, Juni 2013

things to throw

Abermillionen Bilder gehören mittlerweile zum Allgemeingut und zum Inventar der modernen Gesellschaft. Sie rauschen über Bildschirme, fluten durchs Internet, kleben an Wänden oder lagern in Büchern und Zeitungen. Viele der Prints und Filmstills übermitteln gezielte Botschaften, oft aggressiv und unmissverständlich. Messages verdichten sich in Medien, missionieren, verleiten, verlocken - beispielsweise in der Werbung.
Der Künstler Stefan Wegmüller (1984* befasst sich in seiner künstlerischen Arbeit mit den bekannten Bildzeichen, nutzt den kollektiven Bilder- und Erfahrungsschatz, um gekonnt zu irritieren und zu hinterfragen. Er isoliert abgebildete Objekte und stellt sie in eigens zusammengestellten Assemblagen in überraschend neue Sinnzusammenhänge.
Indem der Künstler die Bilder aus ihrem gewohnten Kontext befreit, sie manipuliert, ihnen Informationen raubt oder sie in neuer Konstellation zusammenführt, verlieren sie ihre Beweislast. Sie werden leicht und beweglich und verführen nunmehr durch eine scheinbar sinnbefreite Ästhetik. Die von Stefan Wegman gestalteten oder bearbeiteten Bildkonstellationen verwandeln sich je nach Kombination zuweilen auch in ihr Gegenteil. Aus Spass wird ernst, die hellen Momente eines ausgelassenen Sommers verdunkeln sich, werden zu gewalttätigen Szenen, aus den Nachrichten bekannt. Verheissungen werden zu Drohungen, Privates wird politisch, eine einfache Flasche für Sonnencrème zum Wurfgeschoss und eine Wasserdusche zur Waffe. Die Bildaussagen beginnen sich zu verheddern. Auch Markennamen, Piktogramme, grafische Zeichen und Gesten verwandeln sich unter Stefan Wegmanns Hand: Eine römische Ziffer wird bei genauerer Betrachtung beispielsweise zu einer vier statt einer fünf und ein einschlägiges Handzeichen mutiert dank einer kleinen Veränderung zu einer unerwarteten, mehrfach lesbaren Aussage. Man verliert als Betrachter/in in der plötzlichen Mehrdeutigkeit der Zeichen die Orientierung, muss sie immer wieder neu herstellen. Wie etwa in der fotografischer Arbeit «neu», welche uns ein Buch des Autoren Stefan Wegmüller mit dem Titel «Neuverhandlung der Himmelsrichtungen» vorführt - oder vortäuscht?

Bild zum Text von Stefan Wegmüller

Bild: © Stefan Wegmüller

Zur Arbeit von Philippe Winninger, Mai 2013

Architectures impossibles

Aus Plastikbesteck, PVC-Untersetzern, polymeren Deckeln, Bechern oder Filtern formieren sich grelle Modellstädte. Urbane Stadtlandschaften aus alltäglichen Wohlstandsrequisiten, Wohnvisionen für den Zukunftsmenschen, der in aufgeräumten Wohnbatterien lebt und in der Geborgenheit der wiederholbaren Ordnung sein Wohl zu finden meint. Im Zeichensystem des Überflusses lässt es sich bunt und kinderleicht navigieren. Kisten, Kunststoffschüsseln, seriell hergestellte Körbe und Kleinteile bilden Wohlfühlzonen mit Mickymouse-Appeal, in denen die infantilen Träume aber auch zu neongelben, seifengrünen oder pinkfarbenen Alpträumen mutieren könnten.
Man wähnt sich an der Peripherie einer Agglomeration elektronischer Gehäuse, Wolkenkratzer aus Bauteilen billiger Massenproduktion schiessen in die Höhe, Gefährte auf Hochbahnen drehen ihre Runden und Satelitenschüsseln scheinen auf Signale aus dem All zu warten.
Der Künstler Philippe Winninger plant die Szenerien, die industriellen Produktionsanlagen, die ornamentalen Strukturen mit Akribie. Er wählt die Materialien für die Gebilde mit Sience-Fiction-Potenzial sorgfältig und baut sie mit unendlicher Geduld vor Ort auf. Nichts ist geklebt, die durchscheinenden Mauern aus Weissweinbechern, die hochgestapelten Türme werden von einer Aura des labilen Gleichgewichtes umgeben. Einsturzgefährdet scheint die bunte Welt, die Ausbeute der Wegwerfgesellschaft.

Bild zum Text von Philippe Winninger

Bild: © Philippe Winninger

Zur Arbeit von Ursula Palla, Ausgabe April 2013

Die fünfte Jahreszeit oder aus den Augen verlorenes Paradies

Die Fragilität des Lebens, die Gefährdung, das schutzlose Ausgeliefert sein führt uns die Künstlerin Ursula Palla in ihren Arbeiten immer wieder auf neue Weise vor. Brutalität und Ausbeutung zeigen sich jedoch meist erst unter der geglätteten Oberfläche einer romantischen Bildwelt, die sich zuweilen mit malerischer Opulenz entfaltet. Indirekt, durch die Kombination gegensätzlicher Objekte und Wesen, etwa Stacheldraht, Schmetterlinge, Blumen oder Roboter, wird der rücksichtslose Umgang mit Lebendigem aller Art als vielschichtig lesbare Metapher in der künstlerischen Umsetzung augenscheinlich. Videos, Installationen oder Objekte führen uns auf sinnlichen Abwegen in Abgründe. Was auf den ersten Blick harmlos und bunt erscheint, mutet bei genauerer Betrachtung als schreckliche Zukunftsvision an, auch dann noch, wenn die Bilder eher dokumentarischen Charakter haben und wir uns bereits in der Gegenwart dieser schönen, neuen Welt wiederfinden. So zum Beispiel in der Videoarbeit «flowers 4», in welcher Arbeiter nichts anderes machen, als gezüchtete, weisse Blumen für den Weltmarkt einzufärben. Monströs kommt es uns unvermittelt vor. In unserem Bewusstsein dämmert das Ausmass der Zerstörung. Zurück bleibt die Idylle als unantastbares, unerreichbares und illusorisches Bild. Das Wissen über diese Illusion, die Erkenntnis, hat uns jedoch bereits seit mehr als zweitausend Jahren aus dem Paradies herauskatapultiert. Noch scheint das bereits etwas angedorrte Sinnbild dafür vor unseren Augen zu schweben, der Fokus, der technisch verstärkte Blick ist jedoch mehrperspektivisch in eine unbekannte Ferne gerichtet.
Ab dem 19. April sind Ursula Pallas Arbeiten in der Villa Langmatt in Baden zu sehen. In Videos und Videoinstallationen nimmt die Künstlerin Bezug auf die impressionistischen Gemälde vor Ort und konfrontiert sie mit der Bildwelt des 21. Jahrhunderts, in dem die Grenzen zwischen Technik und Natur dank Gentechnologie und andern Errungenschaften längst verwischt sind. Mit Hilfe von Robotern, Solarpanels und Motoren generiert Ursula Palla in der ehemaligen Fabrikantenvilla mit dem romantisch angelegten Garten die fünfte Jahreszeit. Willkommen im schönen, neuen Frühling.

Bild zum Text von Ursula Palla

Bild: © Ursula Palla

Zur Arbeit von Roland Herzog, Februar 2013

Die Unbesessenen

Stubensofas, zerbeulte Couchs oder abgewetzte Sessel auf öffentlichem Grund abgesetzt: Die ausrangierten Möbel nehmen den gesellschaftlichen Platz in Beschlag und fügen ihm durch ihre Anwesenheit einerseits eine private, andererseits eine schon fast subversive Note hinzu. Die ortsfremden Sitz(un)gelegenheiten besetzen über Gebühr Raum, trüben – oder erleuchten? – die gewohnte Sicht und geben bei genauerer Betrachtung trotz oder gerade wegen ihrer beiläufigen Positionierung ein absurdes Bild ab. Nicht für die Strasse gemacht, wirken sie verloren, aber auch provozierend, vielleicht einnehmend oder abstossend – oder intim? Als temporäre Skulpturen gestalten sie den Raum vorübergehend mit und treten in einen Dialog mit ihrer Umgebung. Der Künstler Roland Herzog hat die vorgefundenen Situationen im städtischen Raum mit seiner Kamera eingefangen und zu einer Serie vereint. Roland Herzog ist ein genauer Beobachter. Er findet im Kleinen die grossen Fragen, sucht und schafft mit seiner künstlerischen Arbeit kulturelle Zusammenhänge, welche über den konkreten Ort hinausgehen. In den meisten Werken nimmt die Natur in all ihren Erscheinungsweisen eine zentrale Stellung ein. Die künstlerischen Setzungen von Roland Herzog macht diese erfahrbar und stellt sie in eine sinnliche Verbindung mit dem Betrachter. Der Künstler, der gleichzeitig auch Zeichenlehrer ist und oft skulptural mit Gusstechniken arbeitet, hat schon mehrere Kunst und Bau­Arbeiten realisiert. Unter anderem hat er an der Kantonsschule Wettingen 2008 die Fassade der Löwenscheune gestaltet. Die monumentale Hülle aus gestanzten Aluminiumplatten wirkt massiv und leicht zugleich. Mit ihrer floralen und teilweise durchlässigen Ornamentik nimmt sie einerseits Bezug zur historischen Gartenanlage des Klosters und schafft andererseits durch ihre Dimension und Materialität ehemaligen Scheune ein zeitgenössisches Gegenüber.

Bild zum Text von Roland Herzog

Bild: © Roland Herzog

Zur Arbeit von Lorenz Oliver Schmid, Januar 2013

Visuelle Gärprozesse

Der Blick der Betrachtenden verliert sich in den Kunstwerken von Lorenz Schmid zuweilen in Wahrsagerkugeln, kanalisiert sich in Fernrohren oder vervielfacht sich in sechseckigen Kristallen: Dem Künstler geht es in seiner Arbeit stets um das Sehen, um das Erkenntnispotenzial im Visuellen, um seine Irrmöglichkeiten und um die emotionalen und kulturellen, sprich symbolischen Einordnungen des optisch Fassbaren an der Grenze zum Unsichtbaren. Das Auge will gefordert werden, überrascht und getäuscht, und geleitet. Mit dem Metier und der Geschichte des Sehens experimentiert der Künstler einem Forscher gleich: Optische Apparate bilden dabei das Instrumentarium für seine Untersuchungen und die künstlerische Umsetzung. Lorenz Schmid bündelt das Licht, bis es sich an Prismen bricht; er stellt atmosphärische Phänomene nach, holt Verschwundenes mithilfe von Experimenten aus dem Schatten, macht es zwischen Laborgläsern, unter Lupen, mit Gärprozessen, etwa wie bei «Gymnospermum» sichtbar. Die Betrachtenden werden in der Ausstellungssituation meist in den Prozess des visuellen Findens involviert. Erst durch ihre Suchbewegungen wird das Bild entdeckt und komplettiert. Das Publikum wird damit zu einem beweglichen Teil des künstlerischen Werkes, welches oft aus Installationen, aus einem Zusammenspiel von Bildern, Objekten und Erfahrungsräumen besteht. Lorenz Schmid verfolgt mit seinem Schaffen auch die mehr oder weniger lichtvollen Linien der Kulturgeschichte: So werden beispielsweise reale Landschaften und Orte wie Dioramen und Panoptiken heraufbeschwört. Vorgefundene Situationen wandeln sich vor Lorenz Schmids fotografischer Linse zum Panorama künstlich wirkender Welten: Im fahlen Schein der Strassenlaternen leuchtet unwirklich der Schnee, einsame Orte in der Nacht wirken inszeniert und überhöht, die Beobachter/innen werden Zeugen einer verlassenen Welt in der nachdenkliche Meerjungfrauen wie Mädchen mit Perlohrringen aus Aquarien steigen.

Bild zum Text von Lorenz Oliver Schmid

Bild: © Lorenz Oliver Schmid

Zur Arbeit von Maia Aeschbach, Dezember 2012

In Schichten eingeschrieben die Zeit

Schwerelos und gewichtig zugleich wirken die Arbeiten von Maia Aeschbach. Die mit Graphit, Milch und Schweinefett bearbeiteten Objekte aus Papierelementen fächern sich dunkel und flächig in minimalistisch formalen Reihungen auf, wellen sich rhythmisch, rollen sich zu Röhren oder spannen sich über Wände. Die Gebilde erinnern dank ihrer bearbeiteten Oberflächen an Metall-, Blei- oder Blechobjekte. Das assoziative Spiel der silbrig schimmernden Papierhüllen erodiert die Standfestigkeit des ewig Dauernden. Die labilen, nicht für die Ewigkeit gebauten Röhren, Platten und Schienen fragen gerade wegen ihrer lavierenden Erscheinung zwischen den materiellen Gegebenheiten nach der Beständigkeit der Dinge unserer Welt. Das Überdauern der Werke hat die Künstlerin offensichtlich nicht interessiert. Meist hat sie diese denn auch nach einer Ausstellung wieder in ihre einzelnen Elemente zerlegt, um da- mit neue Arbeiten zu schaffen. So ist nicht viel von ihrem Werk übriggeblieben. Die fragilen Papierarbeiten muten in ihrer formalen Reduktion zeitlos an, beherbergen aber in vielen abgelagerten Schichten eingeschrieben gleichsam die Zeit als Arbeitsspur und Prozess. Entstanden sind sie ab 1980. Mit ihren künstlerischen Werken ist Maia Aeschbach erstmals an die Öffentlichkeit getreten, als sie schon fast 60 Jahre alt war. Heute ist die Künstlerin 84 Jahre alt. Das Aargauer Kunsthaus widmet ihr in der Ausstellung «Was ist Grau genau?» nun besondere Aufmerksamkeit: Ihre Arbeiten bilden den Ausgangspunkt der Gruppenausstellung. Zeitgleich erscheint die erste umfassende Publikation über das Lebenswerk der Künstlerin: «Maia Aeschbach. Graphit, Milch und Schweinefett».

Bild zum Text von Maia Aeschbach

Bild: © Maia Aeschbach

Zur Arbeit von Sonja Feldmeier, November, 2012

In your Room

Sonja Feldmeier sammelt auf ihren Reisen durch Kontinente und Kulturen Bilder, die sie in ihrer künstlerischen Arbeit neu zusammenfügt oder durch unterschiedliche Gestaltungsprozesse modifiziert zur Darstellung bringt. In diversen Medien arrangiert sie Bruchstücke von Gesehenem, Gehörtem und Aufgezeichnetem. Durch den sozialkritischen Blick der Künstlerin gerät dabei Alltägliches zu Fremdem und Unbekanntes zu Vertrautem. Vorgefasste Meinungen bei den Betrachtenden kommen ins Wanken, kollektive Vorstellungsbilder und Prägungen müssen geprüft werden, kulturelle Codes brechen auf und beginnen, hintergründig zu changieren. Etwa dann, wenn die überdimensionierte Burka einer Drummerin unsere kulturell-religiösen Zuordnungen erschüttern lässt. In Your Room spielt eine Frau unter eben erwähnter Burka Schlagzeug. Am Anfang des Solostücks zeigt der Bildausschnitt die Augenpartie, um danach die gesamte Person einzufangen und schliesslich in Richtung des Publikums zurückzuschwenken. Die Burka, immer wieder Austragungsgegenstand kulturpolitischer Debatten, wird in der Videoarbeit von Sonja Feldmeier neu in­ szeniert. Das Private, welches immer auch politisch ist, wird auf einer imaginären Bühne in verschiedenen Tonlagen und Rhythmen durchgespielt.

Bild zum Text von Sonja Feldmeier

Bild: © Sonja Feldmeier

Zur Arbeit von Rosângela de Andrade Boss, Oktober 2012

Metamorphosen

Die Figuren der Zeichnerin Rosângela de Andrade Boss erscheinen meist als kopflose Wesen in ihren Bildern. Auf der Suche nach Identität vollziehen sie Metamorphosen, durchlaufen unwegsame Gefilde der Erinnerung oder der Zukunft, des Diesseitigen wie auch des Jenseitigen vielleicht. Imaginäres und Reales geraten durch- einander, verworren und versponnen die Körper in ihren Vorstellungsräumen. Inspiriert von den Menschen ohne festem Wohnsitz, die in den Januarnächten auf den Pariser Strassen schlafend vom Dschungel der Grossstadt gleichsam überwachsen werden, zeigt die in Brasilien geborene Künstlerin in Zofingen ihre neuesten, durch- aus auch gesellschaftskritisch zu deutenden Zeichnungen. In den Collagen scheinen die Verlierer des kapitalistischen Systems in ihren existenziellen Nöten einem wuchernden Delirium zu entfliehen. Rosângela de Andrade Boss zeichnet in ihren meist grossformatigen Arbeiten auf Papier einen surrealistischen, sich im Übergang befindenden Kosmos. Zentral sind dabei immer die hybriden Körper, oft gespiesen mit mythischen oder märchenhaften Figuren, welche wie ein Sender der Innenwelt ein berauschendes wie auch beängstigendes Bild skizzieren: scharf umrissene und detailreich modulierte Versatzstücke einer brüchigen Sinnwelt einerseits, ins Leere laufende Blickfelder andererseits. Das Meiste in und um uns ist Terra incognita.

Bild zum Text von Rosângela de Andrade Boss

Bild: © Rosângela de Andrade Boss

Zur Arbeit von Judith Huber, August 2012

Körperzustände und Wechselspiele

Die Performancekünstlerin Judith Huber kreiert in ihren Performances immer wieder vieldeutige Körperbilder, welche sich irgendwo zwischen träumerischen Bewusstseinszuständen und traumatischen Erfahrungen ansiedeln: Ein sich blähender, objekthafter Leib, der sich unter einer Wärmelampe ausdehnt und zu bersten droht, orangeschäumende, sich verselbständigende Hautoberflächen, formlose, dem Rumpf und den Extremitäten anhängende Massen in Wülsten erinnern an Science­Fiction und Fantasy­Szenarien. In changeable wird die Künstlerin zur Performanceskulptur, indem sie aus dem Innern eines amorphen Sackes hinaus diesen scheinbar zum Leben erweckt. Das «wesende Wesen», wie die Künstlerin ihre organisch anmutende Kreation nennt, ist nicht Mensch, nicht Tier noch Pflanze, wird aber durch die teils verlangsamten oder ruckartigen Bewegungen für die Dauer der Performance durch die Vorstellung der Zuschauenden zu einem realen Gegenüber. In ihren neuesten Performances spielen gestische Improvisation und Reduktion zunehmend eine wichtige Rolle. Hirnströme generieren Bewegungsabläufe, schliessen sich mit dem Körpergedächtnis kurz und produzieren leibhaftigen Sinn auf der Suche nach einer (Neu­) ordnung des Körpers in Raum und Zeit.

Bild zum Text von Judith Huber

Bild: © Judith Huber

Zur Arbeit von Sandra Senn, Juli 2012

Home

Die Bilder der Künstlerin Sandra Senn verführen – und irritieren. Spätestens beim zweiten Augenschein entlarven die vermeintlich fotografischen Abbilder ihre künstliche Verfasstheit. Bunt fantasierte Objekte und seltsam angelegte Ordnungen provozieren denn auch eine genaue Prüfung des Realitätsgehalts. Noch lieber gibt sich aber der Blick vertrauensselig den gekonnt konstruierten Sehnsuchtsmomenten hin, lässt sich fesseln von den Naturphänomenen oder der Andersartigkeit der Gebäude, in denen immer wieder Vertrautes aufscheint. Wer mit den Augen in der Bildlandschaft umherschweift, entdeckt verspielte Details, Anfänge von Geschichten vielleicht. Die Architekturen und Landschaften, die so sein könnten, aber irgendwie auch doch wieder nicht, entziehen der Gewissheit den Boden, kollidieren mit vorgefassten Erwartungen oder beglücken durch ihre in der Schwebe gehaltene Existenz.

Bild zum Text von Sandra Senn

Bild: © Sandra Senn

Zur Arbeit von Victorine Müller, Mai 2012

Atmende Skultpuren

In ihren stillen, meditativen Schaustücken auf Zeit erweckt Victorine Müller überdimensionale, transparente, oft tierartige Wesen, die leise zu atmen scheinen. Die Künstlerin schafft mit ihren Arbeiten, welche sich zwischen Performance und Skulptur, Malerei und Zeichnung ansiedeln, auf eigene Weise einen magisch anmutenden Kosmos, dem sich die Betrachtenden schwerlich entziehen können. Die Lichtgestalten aus PVC hüten die Künstlerin in ihrem Inneren, zuweilen stellen sie sich auch, schützend – oder bedrohlich – neben sie. Die Tiere aus dem seltsamen Tierreich versetzen die Performerin durch ihre Anwesenheit in eigentümliche Ferne, während die Zeit beinahe ereignislos verstreicht. So auch in der 30­minütigen Performance im SIK 2008. Beim Eindunkeln verwandelte sich das zuerst schlaff und leblos wirkende, amorphe Plastikobjekt, welches die Künstlerin umgab, allmählich in einen leuchtenden Vogel.

Bild zum Text von Victorine Müller

Bild: © Victorine Müller

Zur Arbeit von Sara Rohner, März 2012

Bildräume

Die Malerin und Installationskünstlerin Sara Rohner beschäftigt sich schon seit längerem mit der Zeitung als Medium der allgemeinen Weltaneignung. Über die Jahre werden in der Auseinandersetzung mit der täglichen Berichterstattung in Wort und Bild denn auch verschiedene kulturelle Vorgänge sicht­ und ablesbar. In einem aufwändigen malerischen Gestaltungsprozess ergänzt Sara Rohner ausgewählte Zeitungsbilder über den Zeitungsbogen, in dem sie die Bögen dem original belassenen Umgebungsraum der Bilder anpasst und diesen mittels eines lasierenden, teilweise überdeckenden Verfahrens auf die Zeitungsseite ausdehnt. Die Stellung der Medienbilder bleibt dabei original, das Zeitungsbild wird in seiner Ursprünglichkeit nicht angetastet. Die gemalten Bildergänzungen verleihen den Ursprungsbildern mehr Raum und verändern gleichzeitig deren Kontext. Auf diese Weise konstruiert die Künstlerin aber auch neue Bildräume innerhalb des bearbeiteten Blattes und stellt thematische Verschränkungen her, wo ursprünglich keine waren.
Dieser subjektive Eingriff überrascht und schafft zuweilen absurde Zusammenhänge, welche das bekannte Tagesmedium in andere Relationen stellt und es mit dem Blick der Künstlerin befragt.

Bild zum Text von Sara Rohner

Bild: © Sara Rohner

Zur Arbeit von Georg Aerni, Territorien, Februar 2012

Der Künstler und Dokumentarfotograf Georg Aerni untersucht mit seiner Kamera immer wieder aufs Neue das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Er nimmt mit möglichst neutralem Blick unsere Umwelt da ins Visier, wo Konstruiertes und Gebautes auf Ursprüngliches trifft, wo die Grenzen der Kategorien verwischen und in Frage gestellt werden. In verschiedenen Serien richtet er seinen Fokus auf künstlich überformte Landschaften. Die Fotografien aus der Serie «Territorien» zeigen Ein- sichten in leere Zoogehege. Die Tiergärten, die doch Natürlichkeit suggerieren sollen, offenbaren ohne ihre Bewohner eine Idylle der eigenen Art.

Bild zum Text von Georg Aerni

Bild: © Georg Aerni

Zur Arbeit von Daniel Schibli, Januar 2012

Doppelte Wirklichkeit

Die sinnlichen und bewegt erscheinenden Bildwelten in Daniel Schiblis Arbeiten sind verführerisch. Täuschen sie auf den ersten Blick eine spielerische Idylle vor, so entlarven sie sich bei genauerem Hinschauen in ihrer Konstruiertheit gleich selber wieder. Das Zeigen doppelter Realitäten ist in den wie auch immer gebauten Bildräumen also bereits angelegt. Der 1963 geborene und in Wettingen und Zürich arbeitende Künstler öffnet in seinen Arbeiten, ob Malerei, Fotografie, Video oder Installation, stets einen ambivalenten Blick, pendelnd zwischen Präzision und Bastelei, abgründigem Schauer, Magie und Üppigkeit.

Zur Arbeit von Remote Citizen, Künstler*innenkollektiv Christian Kuntner, Astride Schlaefli, Dezember, 2011

Wie Zweckentfremdet dürfen wir den öffentlichen Raum nutzen?

die Künstlergruppe Performance Operators untersucht in ihrem Projekt REMOTE CITIZEN mit anarchischen Instantinszenierungen die Schnittstellen zwischen Alltag und Kunst im urbanen Raum. die Interventionen der Künstlergruppe erinnern an einen Flashmob, der sich in den Städten von Ort zu Ort bewegt. Der «Mob», eine jeweils frisch zusammengestellte Gruppe aus interessierten Personen, verhält sich mehr oder weniger synchron, absurd und nonkonform im übergeordneten System des öffentlichen Raums. die Verhaltensanweisung erhalten die einzelnen Mittäter über Kopfhörer. Mit ihren Aktionen hinterfragen die Akteure gewohnte verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, unterwandern die zweckorientierte Infrastruktur in den Städten und brechen stille Konventionen mit ungewohnten Aktionen. Gleichzeitig wird jedoch offensichtlich, dass auch der Mob fremdgesteuert wird. Wer steuert also wen im System?

Zur Arbeit von Nica Giuliani & Andrea Gsell, November 2011

«Fisches Nachgesang » von île flottante | Nica Giuliani & Andrea Gsell

Die Audio- und Videoinstallation «Fisches Nachgesang» greift die aktuelle Wirtschaftslage als belastete Thematik auf und setzt sie mit Poesie und Leichtigkeit ins Bild. Auf fünf chorähnlich aufgestellten Monitoren rezitiert je eine Figur der Finanzwelt das Gedicht «Fisches Nachtgesang» von Christian Morgenstern stumm vor sich hin. Zeitgleich ist eine sirenenartige Stimme zu hören, welche die grafische Darstellung des stetig aktualisierten SMI-Kursverlaufs wie eine Melodie interpretiert. Die vermeintliche Kakophonie der singenden, aufgeplusterten Finanzhaie in Anzug und Schale klingt daher stündlich anders. Seit ihrem Studium der Medienkunst an der Fachhochschule Aargau arbeiten Andrea Gsell, Brugg und Basel, und Nica Giuliani, Basel, zusammen. Neben der Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum, in dem sie immer wieder Interventionen vornehmen, steht das Interesse, mit neuen Medien Erzähl- und Erfahrungsräume zu schaffen.

Bild zum Text von île flottante | Nica Giuliani & Andrea Gsell

Bild: © île flottante | Nica Giuliani & Andrea Gsell

Zur Arbeit von Marianne Engel, Oktober 2011

Unsichtbares Festhalten

Marianne Engel (1972, Mandach) schafft Bildwelten von magischer Qualität. Mittels Langzeitbelichtungen hält die Künstlerin mit ihrer Kamera fest, was dem blossen Auge natürlicherweise verborgen bleibt. Anlässlich der Ausstellung im Aargauer Kunsthaus in Aarau zeigt die Preisträgerin des diesjährigen Manor Kunstpreises Fotografien, Objekte und Installationen. Die obskuren Gegenstände, welche die Künstlerin wie in einer Art Wunderkammer versammelt, geben Einblick in das künstlerisch und wissenschaftlich geprägte Universum der studierten Biochemikerin. Dem Sarkophag ist in der Ausstellung eigens ein Raum gewidmet. Marianne Engels aktuelles Langzeitprojekt ist derweil ihr Garten.

Bild zum Text von Marianne Engel

Bild: © Marianne Engel

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